Cover
Titel
Napoleon. Ein Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Keen und Erhard Stölting


Autor(en)
Zamoyski, Adam
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
863 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh

Vom Cover fixiert den/die Leser/in ein stechender Blick: „Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen“, betitelt der Einband das berühmte Gemälde von Jacques Louis David und datiert es ins Jahr 1800. Kaiser war Bonaparte damals jedoch noch nicht, die Krönung erfolgte bekanntlich erst vier Jahre später. Der Künstler zeigt ihn uns denn auch nicht als Monarch, sondern als General, und zwar (vom Cover verborgen) hoch zu Ross beim Überschreiten der Alpen am 14. Mai 1800.

Noch heute scheiden sich am Empereur die Geister. Für die einen eine Lichtgestalt, der der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Feudalordnung zum Durchbruch verholfen hat; für die anderen der Wegbereiter eines militaristisch ausgerichteten Nationalismus, der den Kontinent in Trümmern legte. Etliche Biograph/innen haben sich an dem Revolutionär und Unheilbringer schon abgearbeitet; dennoch greift man zu der von Adam Zamoyski veröffentlichten Lebensbeschreibung mit einiger Spannung, gilt der Autor doch nicht nur als ausgewiesener Kenner der Person Napoleons, sondern seit dem Erscheinen zweier Bestseller über dessen Russlandfeldzug und den Wiener Kongress auch als großer Stilist.1

Diese Stärke kommt auch seinem neuesten Werk zugute, doch weist es - bereits im Vorwort sichtbar - auch gewisse Schwächen auf. Was über Napoleon bisher geschrieben worden sei, atme „stets eine Moral, die zur Verleumdung oder zur Verherrlichung nötigte“ (S. 12), behauptet Zamoyski. Seine „Machtgier zu verdammen hieße, die Natur des Menschen und die politischen Notwendigkeiten zu leugnen“ (S. 13). Manches der Urteile Zamoyski scheint durchaus diskussionswürdig, andere wiederum nicht. Warum gelang es den angeblich ebenso machtgierigen Fürsten der europäischen Großmächte, nach der Besiegung Napoleons auf dem Wiener Kongress nicht nur den Krieg zu beenden, sondern eine fast einhundertjährige Friedensphase einzuläuten? Wieso kommt ein so kluger Kopf wie der Amerikaner Paul W. Schroeder in seinem monumentalen Buch über die internationalen Beziehungen von 1763 bis 1848 zu dem Urteil, Napoleon könne weder mit Karl V., Ludwig XIV. oder Wilhelm II., sondern nur mit Hitler verglichen werde, weil nur sie beide Europa „into a collection of colonial depedencies“ umwandeln sollten?2

Nach der streitbaren Ouvertüre konzentriert sich Zamoyski in einer strikt chronologisch angelegten Erzählung auf der Basis „überprüfbare[r] Primärquellen“ vornehmlich darauf, „in all seinen Facetten das Leben des Mannes zusammenzusetzen, der als Napoleone Buonaparte geboren wurde“ (S. 14). Die 44 nur mit einem oder einigen wenigen Begriffen überschriebenen Kapitel schlagen den Bogen vom „scheuen Messias“ (S. 17) bis zur „Dornenkrone“ (S. 746) und lassen eine beinahe heilsgeschichtliche Konnotation anklingen.

Ausführlich schildert der Autor den Werdegang des 1769 auf Korsika geborenen Napoleone Buonaparte von der Ausbildung zum Offizier über die ersten militärischen Meriten bis zur Hochzeit mit Joséphine de Beauharnais, die ihm wertvolle Verbindungen in der Hauptstadt und zum alten Adel verschaffte. Die glänzenden Siege des im März 1796 zum Befehlshaber der Italienarmee beförderten Generals ließen erste Ansätze eines Mythos entstehen. Nach dem Habsburg aufgenötigten Vorfrieden von Leoben 1797 begann man den „Herr[n] über Italien“ (S. 191) im Pariser Direktorium zu fürchten – zu Recht. Am 9. November 1799, dem 18. Brumaire des Jahres VIII, fegte ein Rumpfparlament das Direktorium mit Waffengewalt hinweg und berief den Feldherrn mit zwei weiteren Konsuln an die Spitze des Staates.

Nach der Machtübernahme strebte der Erste Konsul einen siegreichen Frieden auf dem Kontinent und einen Waffenstillstand zur See an. Ob der „Befreier Europas“ (S. 381) „den Fortbestand des Friedens tatsächlich wollte oder nicht, sei dahingestellt“, meint der Autor lakonisch und entzieht sich damit der ja nicht unwesentlichen Frage, ob die „Konsularische Majestät“ (S. 398) überhaupt zum Frieden fähig war.

Dass Napoleon nach dem Sieg in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz 1805 im „Gefühl fast grenzenloser Machtfülle“ (S. 478) ein den europäischen Kontinent beherrschendes „Grand Empire“ anvisierte, stößt bei Zamoyski durchaus auf Sympathie. „Die Begriffswelt der Grande Nation wich der des Grand Empire. Irgendwo darin verbarg sich auch das Ideal eines Europas ohne Grenzen, eines gemeinsamen Vaterlands der Aufklärung mit einem universalen Rechtssystem und einer gemeinsamen Währung“ (S. 481).

Nach den Siegen bei Jena und Auerstedt gegen Preußen 1806 und bei Friedland gegen Russland 1807 stand der „Sonnenkaiser“ (S. 506) auf dem Höhepunkt seiner Macht. Das Erreichte abzusichern, war indes nicht seine Sache. Indem er nun daran ging, England in die Knie zu zwingen, sahen nicht wenige Europäer den einst als „Befreier“ gefeierten Napoleon mittlerweile als „Unterdrücker“ (S. 556).

Dank des abermaligen Sieges in der Schlacht bei Wagram gegen Österreich 1809 bekam Napoleon wieder Auftrieb. Mit dem Diktatfrieden von Schönbrunn, der Vermählung mit Erzherzogin Marie Louise von Habsburg 1810 und der Geburt des gemeinsamen Sohnes 1811 schien das private wie politische Glück vollkommen. Doch der Eindruck trog. Risse im Innern des Empire und die virulenten Spannungen mit England und Russland ließen seine Herrschaft brüchig erscheinen. „Mit seinem taktischen Agieren ohne Gesamtstrategie hatte sich Napoleon in eine Sackgasse manövriert, aus der nur ein Weg führte, der Rückweg – und den zu beschreiten war er nicht gewohnt“ (S. 602), konstatiert Zamoyski; nicht nur nicht gewohnt, sondern unfähig, möchte der Rezensent hinzufügen. Auf die Überschreitung des „Rubikon[s]“ (S. 618) – dem Krieg gegen Russland - folgte in der Katastrophe des russischen Winters die „Nemesis“ (S. 635). Nach der Niederlage in der Vielvölkerschlacht bei Leipzig 1813 drohte dem Kaiserreich der Zerfall. Indem Napoleon seinen Ruf in der einzigen Weise meinte wiederherstellen zu müssen, die er kannte, „durch militärische Siege“, verspielte er die durchaus gegebene Chance, den Thron zu retten (S. 689). Am 30. März 1814 kapitulierte Paris unter dem Ansturm der alliierten Hauptarmee. Napoleon dankte zwar ab, doch der Wille des nach Elba Verbannten, dem Schicksal zu trotzen, wie auch die Meldung, die in Wien versammelten europäischen Fürsten würden seine Verlegung in den Südatlantik erwägen, bewogen ihn nach einem Jahr zur Flucht. Am 18. Juni 1815 zerplatzten all seine Hoffnungen im Morast von Waterloo. Abermals verbannt, starb Napoleon am 5. Mai 1821 August auf St. Helena, entweder an „Krebs oder gastrointestinalen Blutungen infolge einer von Magengeschwüren durchbrochenen Bauchwand“, wie Zamoyski diagnostiziert (S. 767).

Dank der sprachlichen Meisterschaft legt man sein Buch durchaus mit Gewinn aus der Hand; die mit Napoleon und seiner Zeit nicht völlig unvertraute Leser/in darf jedoch einige Ausstellungen anmelden. Mag man der Entscheidung des Autors, den „Lehrjahren“ Napoleons (S. 14) mehr Raum als seinem Jahrzehnt an der Macht zu widmen, noch Verständnis entgegen bringen, hätte man bei einem stattlichen Umfang von 770 Seiten Text über die breiten Schilderungen von Napoleons Familienleben, seinen Kleidungs- und Badegewohnheiten, Lektüren und Liebschaften bis hin zum täglichen Wetter hinaus doch eine tieferschürfende Analyse der sich verändernden Staatenwelt gewünscht. Gern mehr erfahren hätte der/die Leser/in überdies über das verwickelte Hin und Her der deutschen Groß- und Mittelmächte in ihren Kämpfen als Verbündete oder Gegner Frankreichs. Dass Thomas Nipperdey seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts mit dem programmatischen Satz „Am Anfang war Napoleon“ beginnen lässt3, scheint Zamoyski nicht eines Gedankens wert. Wohlwissend, dass Napoleon kaum auf einen Nenner zu bringen ist, vermisst die Leserschaft schließlich eine Gesamtwürdigung durch den Autor. Nur in seinem knappen „Vorwort“ gibt Zamoyski einige zentrale Erkenntnisse preis, testiert Napoleon einen Mangel an „Übermenschlichem“, schreibt ihm brillante taktische, aber mangelnde strategische Fähigkeiten zu, betont die „im großen und ganzen lobenswert[en]“ Motive des Kaisers wie auch dessen Verantwortung für die „schlimmste (und ganz und gar selbstverschuldete) Niederlage der Kriegsgeschichte“ (S. 11). Recht hat Zamoyski gewiss mit der abschließenden These, dass mit dem Tod Napoleons „sein neues Leben als Mythos“ begonnen habe (S. 770). Knapp 200 Jahre später und gut 250 Jahre nach seiner Geburt scheint es indes an der Zeit, ihn als eine rein historische Gestalt zu begreifen.

Anmerkungen:
1 Adam Zamoyski, 1812. Napoleons Feldzug in Russland, 10. Auflage, München 2012; ders., 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress, München 2014.
2 Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics, 1763–1848, Oxford 1994, S. 392.
3 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 11.

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